Samstag, 18. Mai 2013

Draußen bleiben

Vielleicht würde Jesus nicht in jenen Himmel einziehen, den er verkündet hat. Ich stelle mir vor, dass er, begleitet von einer Armee von Heiligen, Priestern und Engeln, einherschreitet, geradewegs auf das Tor zu, hinter dem das Paradies beginnt. Ein sanftes Lächeln liegt auf seinem Gesicht. Wie balzende Schmetterlinge fliegen die Engel durch die Luft; die kleinsten sind am beweglichsten, am schnellsten. Alles freut sich. Der ersehnte Tag ist endlich gekommen. Das Leid hat ein Ende.

Eine verlorene Seele bewacht das Tor zum Paradies. "Was wollt ihr hier?", fragt sie, als ob sie von den Vorkommnissen auf der Erde rein gar nichts wüsste. Jesus, der das heilige Gewimmel anführt, antwortet ihr mit dem Ausdruck größter Zärtlichkeit: "Wir kommen, um in das versprochene Land einzuziehen. Der Tag ist gekommen." Die verlorene Seele holt einen dicken, verstaubten Aktenordner aus dem Regal. "Das sind die Leute, die wir hier reinlassen können. Wenn Sie mir bitte Ihren Namen sagen würden?"
"Ich heiße Jesus Christus, ich habe die Welt erschaffen - und doch auch wieder nicht, weil ich ja als Mensch vor wenigen Jahren erst geboren wurde. Ist alles nicht so einfach bei uns bzw. bei mir."
"Kenne ich. Mit solchen Familien habe ich hier oft zu tun. Glauben Sie mir, da könnte ich so einiges erzählen! Ich kann aber leider keinen Eintrag finden. Sie dürfen hier nicht rein."
"Da muss ein Irrtum vorliegen."
"Hier stehen noch ein paar Vermerke. Darin wird alles erklärt. Sekunde ... okay. Also: Sie müssen draußen bleiben, weil Sie dem Übel widerstanden haben, ohne je auch nur einen Moment ihres Lebens böse gewesen zu sein. Sie haben nicht aus der Fülle des Seins heraus gelehrt, sondern haben sich auf das Gute allein beschränkt. Sie haben zu wenig gesündigt. Sie wissen gar nicht, wovon Sie die Welt erlösen sollten, weil die Sünde in Ihnen niemals lebendig gewesen ist. Das Herz der Welt blieb Ihnen verschlossen. Steht da."

Jesus verstummt. Tränen steigen ihm in die Augen. Er wendet sich einem Kamel zu, um sich an dessen Hals zu klammern, so wie sich ein Ertrinkender an eine Boje klammert. Langsam sinkt er in sich zusammen. Zieht das Tier mit sich hinab. Das Kamel befreit sich, der gescheiterte Gott bleibt auf dem Boden liegen. Wie ein Embryo im Mutterleib rollt er sich zusammen, um den verstörten Blicken der Heiligen zu entgehen und für alle Zeiten zu weinen.


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