Dienstag, 30. Juli 2013

Nächtliche Gedanken

Wenn es zutrifft, dass jene Gefühle, die wir mitzufühlen meinen, in Wahrheit unsere Gefühle sind, die wir in andere projizieren, dann ist jedes Mitleid Selbstmitleid.

Menschen, die sich schuldig fühlen, wenn sie einmal nichts weiter tun, als auf ihre eigenen Gefühle zu achten, sollte man dazu ermuntern, dies aus Rücksicht auf andere zu tun. Denn das Mitgefühl für andere können wir nur entwickeln, wenn uns selbst gegenüber achtsam sind. Wer in Einsamkeit meditiert, verbiestert nicht, sondern trainiert aktiv sein Mitgefühl. 

Es ist nicht egoistisch, glücklich sein zu wollen. Die Gegenwart eines wahrhaft glücklichen Menschen beseelt alle, die ihm begegnen. Der eigentliche Egoismus besteht also darin, nicht glücklich sein zu wollen.

Die Grundlage des Mitgefühls besteht darin, dass ich mir bewusst mache, dass alle Wesen leidensfähig sind. Die Grundlage des Mitgefühls besteht also unredlicherweise darin, dass ich von mir auf andere schließe. Ich unterstelle ihnen einfach, dass es ihnen nicht substantiell anders geht als mir. Tue ich dies nicht, verliere ich diesen erträumten und erdichteten Zugang zu ihnen wieder. Ist also Unredlichkeit die Grundlage des Mitgefühls?

Wer Angst vor seinen Schwächen hat, hat Angst vor seiner Menschlichkeit.

Wir verstehen nie die Wirklichkeit, sondern das, was unser Geist Mundgerechtes aus ihr zubereitet hat. Worum sind wir so scharf darauf, die Wirklichkeit zu verstehen, also von ihr zu abstrahieren, anstatt sie zu erfahren? Ist die Reflexion nicht unendlich viel ärmer als jede Erfahrung? Sind wir denn nicht nur ganz, insofern wir erfahren?

Ich denke gar nicht daran, mich gut zu verkaufen, weil meinen Preis ohnehin niemand bezahlen könnte.






Donnerstag, 25. Juli 2013

Der Anfang aller Dinge

Wenn ich glaube, dass mir niemand vertraut, dann werde ich dies auch ausstrahlen. Die Folge davon wird sein, dass mir tatsächlich niemand vertraut. Unsere Beziehungen sind immer zweiseitig: Wenn wir anderen misstrauen, werden wir auch in ihren Augen über kurz oder lang den Status einer vertrauenswürdigen Person verlieren. Werfen wir einem Menschen mit zorinigen Worten vor, dass er Angst vor uns habe, so brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn er uns sagt: Ja, allerdings. Man kann niemandem vorwerfen, dass er nicht liebt, ohne mit dem Finger auf die eigene Lieblosigkeit zu zeigen. Denn die Liebe klagt nicht an. Sie ist produktiv. Das Handeln dessen, der liebt, hört auf, die bloße Wirkung einer äußeren Ursache zu sein. Ein solcher Mensch sagt nicht: Weil mich keiner anruft, werde auch ich niemanden anrufen. Der Liebende wartet nicht, bis er jemanden gefunden hat, der ihn versteht. Er ist aktiv. Seine Liebe ist ihm der Anfang aller Dinge.

 

Dienstag, 23. Juli 2013

Altherrenpsychologie

Wenn sich Psychologen als Autoren versuchen, dann liest sich das oft so, als ob sie über einen Feind schrieben. Als Betroffener muss man sich geradezu schuldig fühlen, wenn man einen Blick in ihre Bücher wirft. Viele Psychologen meinen, moralische oder gesellschaftspolitische Statements abgeben zu müssen. Gerne spielen sie sich als einsame Warner auf, die eine Wahrheit verkünden, die nur allzu gern überhört wird. Sie wollen wirken und gehört werden. Also immer schön verallgemeinern und monokausal erklären, damit es auch der Dümmste versteht! Immer feste druff! Warum individualpsychologische Erkenntnisse nicht gleich auf ganze Gesellschaften übertragen? Wozu denn methodische Bedenken? Den Infantilismus könne man nur überwinden, wenn man selbst eine Familie gründe, schreibt etwa Flöttmann. Wer sich dem verweigere, könne niemals wahrhaft erwachsen werden. Damit schwingt sich Flöttmann zu jemandem auf, der anderen unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Psychologie zu verstehen gibt, wie sie zu leben haben. Er ist konservativ orientiert. Maaz, der im Gegensatz zu Flöttmann keine infantile, sondern eine narzisstische Gesellschaft meint diagnostizieren zu müssen, entdeckt hinter jeder hervorragenden Leistung in Sport, Kunst oder Wissenschaft das letztlich zum Scheitern verurteilte Bemühen eines Menschen, seine innere Leere zu überspielen. Daraus zieht Maaz den Schluss, dass es besser sei, zugunsten des menschlichen Glücks auf solche Leistungen zu verzichten. Leider kommt er mit diesem Gedanken viel zu spät. Wäre er schon früher gehört worden, hätte sich vielleicht nie eine Psychologie moderner Prägung herausgebildet. Und damit wäre uns diese ungewollt komische Altherrenpsychologie erspart geblieben.

Samstag, 20. Juli 2013

Wider die Sekte

Unter dem Vorwand, die Menschen zusammenzuführen, hat die christliche Religion sie seit jeher in Gläubige und Ungläubige unterteilt. Es genügt den Gläubigen nicht, wenn jemand aus einer menschlichen Gesinnung heraus handelt, solange er dies nicht in Namen Gottes tut. Die Christen sehen sich natürlich auf der Seite des Guten, das in dieser gottlosen Welt tragischerweise zumeist kraftlos verpufft. Immer sehen sie doppelt. In Gesprächen mit ihnen gelingt es mir kaum, sie einmal zu einem Perspektivwechsel zu ermuntern. Nein, ihr ganzes Seelenleben scheint auf diesen Dualismus ausgerichtet zu sein, der die Beweglichkeit ihres Geistes lähmt. Sie können sich oft nicht von sich selbst distanzieren. Wer das von ihnen verlangt, kann eigentlich nur mit dem Satan im Bunde stehen. Sie sind immer im Recht. Entweder ist ihr Gegenüber ungläubig, womit dessen Niedertracht schon halb bewiesen ist, oder es ist gläubig, ließ sich aber vom wahren Weg abbringen. So spielen die Christen gern den wahren Glauben gegen den Irrglauben aus. Alles Verwerfliche, Kranke und Boshafte, das in der Geschichte im Namen Christi getan wurde, weisen sie strikt von sich. Jesus ist rein, seine Lehre die tiefste an Weisheit und Güte. Missgriffe unterlaufen immer nur den armen Menschenkindern hienieden, die diese göttliche Lehre nicht richtig verstehen oder sie absichtlich verfälschen.

Die schlichte Frage, warum ich mich sündig fühlen solle, kann mir kein Christ beantworten, ohne die Sünde als Faktum vorauszusetzen. Dass die eigentliche Sünde darin bestehe, andere Menschen sündig zu sprechen, ist ein Satz, den sie in der Regel nicht verstehen. Sie wehren sich sogar dagegen, ihn zu verstehen. Die Christen wollen sich als aus dem Paradies vertriebene, nach Gnade lüstern über diese Erde schweifende Wesen fühlen. Niemand kann sie davon abbringen, an ihre eigene Sündhaftigkeit zu glauben. Sie brauchen das, sie wollen sich im Schlamm ihrer Verworfenheit suhlen. Mehr noch: Sie fordern auch von anderen, sich in diesem Schlamm zu suhlen. Das nennt man Mission. Die Mission ist sicherlich mit das Unappetitlichste des ganzen Christentums. Bei ihr geht es, ähnlich wie in der Werbung, darum, Menschen etwas zu verkaufen, das sie nicht gebrauchen können. Niemand, dem es gut geht und der sich des Lebens erfreut, würde sich so ohne Weiteres sagen lassen, dass er ein sündiges Wesen sei, das nur durch die Gnade Gottes gerettet werden könne. Folglich muss in einem solchen Menschen die nötige Selbstverachtung erst sorgsam wachgeküsst und seine innere Not behutsam herangezogen werden, bis er sich seelisch als so ausgedörrt und vertrocknet empfindet, dass er den Glauben nötig hat. Nur getrübte Seelen fallen der Sekte zum Opfer.

Die Christen erklären, dass der Mensch allein zu schwach und verworfen sei, um sein Leben selbst zu gestalten. Auch glauben sie, dass kein Sterblicher die göttliche Weisheit jemals ganz ergründen werde. Der Mensch ist also weder in der Lage, auf eigene Faust zu leben, noch dazu fähig, die ungeschminkte Wahrheit zu erkennen. Was er erkennt, ist nichts, es sei denn vielleicht eine unscheinbare Blüte vom Strauß höherer Weisheit. Das Infantile Moment ist dem Christentum immanent. Denn einzig der Herr weiß, was gut für seine Kinder ist, nur seinen Worten darf uneingeschränkt vertraut werden. Viele Menschen heute fühlen sich überfordert. Sie sehnen sich nach jemandem, zu dem sie aufblicken können. Jemand, der ihnen hilft und der sie liebt, nicht irgendwie, sondern so, wie sie sind. Gott ist zu dieser Liebe wie geschaffen, denn er ist gütig und weiß alles. Vor Gott gibt es keine Geheimnisse, darum ist seine Liebe die reinste: Sie sieht direkt auf den Grund des menschlichen Herzens. Wer sonst niemanden hat, darf sich doch daran erfreuen, dass Gott ihn liebt, und zwar tiefer und inniger, als dies ein Mensch je könnte. Deshalb gibt es Menschen, die die Liebe zu einem wirklichen, lebendigen und von warmem Blut durchströmten Partner wegwerfen, um sich stattdessen der ewig sicheren Liebe eines Gottes hinzugeben, der sich gegen ihre Liebesbezeigungen nicht wehren kann.

Donnerstag, 18. Juli 2013

Widersprüche

Man stelle sich jemanden vor, der eine Auffassung vertritt, die uns zutiefst zuwider ist, sie uns gegenüber allerdings mit viel Intelligenz, Phantasie und menschlicher Wärme vorträgt. Wir würden bei einer solchen Person nie den Impuls verspüren, sie schon aufgrund ihrer bloßen Meinung moralisch in den Boden zu stampfen, wie wir dies in der Regel leider allzu gern tun.

Oft fühlen wir uns nur deshalb im Recht, weil es unsere Gegner nicht für nötig erachten, uns zu widerlegen. Eine Meinung so ohne jeden Widerspruch, so ganz ohne Gegenwehr zu besitzen, hat etwas ungemein Ermüdendes. Die Versorgung des stehenden Heeres des immer gleich Gemeinten ist anstrengender, als sich mal wieder so richtig schön ins Unrecht zu setzen. Das Falsche, Überzeichnete und absichtlich Verworrene zu sagen, kann ein Kunstgriff sein, um raffiniertere Geister aus der Reserve zu locken. Ohne Widerspruch gehen wir ein. Doch warum sollte es uns etwas ausmachen, ob die Überzeugungen, für die wir kritisiert werden, auch tatsächlich die unsrigen sind? Wissen wir denn immer so genau, wovon wir eigentlich überzeugt sind? Muss man nicht auch bereit sein, eine Narrenkappe zu tragen, um der Wahrheit die Treue zu halten? Wenn wir immer nur sagen, was wir denken, und immer nur tun, was unserem Wesen entspricht, werden wir vieles niemals erfahren. Wenn wir Erfahrungen machen, warum dann ausgerechnet immer als wir selbst? Warum nicht als jemand anderes?

Dienstag, 16. Juli 2013

Leid und Lebendigkeit

Wenn wir uns mit einem bestimmten Bild unserer Selbst identifizieren, machen wir uns verletzlich. Je mehr wir darauf bestehen, dieses und nicht jenes zu sein, desto mehr versteifen wir uns, desto unbeweglicher und schwerfälliger wird unser Geist. Etwas definieren heißt, ihm eine Grenze zu ziehen. Wer sich selbst definiert, setzt sich selbst Grenzen. Wollen wir wissen, wer wir sind, müssen wir unterscheiden zwischen dem, was uns ausmachen soll, und dem, was wir auf gar keinen Fall mit unserem Namen assoziiert sehen möchten. Die so entstandene Identität gerät immer dann ins Wanken, wenn uns wieder einmal deutlich geworden ist, dass wir kaum etwas anderes tun, als Behauptungen über uns selbst aufzustellen, die von der Wirklichkeit mit Leichtigkeit widerlegt werden können. Viele Leiden rühren daher, dass wir uns an etwas festkrallen, das längst tot oder nur der Eitelkeit entsprungen ist. Eine Frau fürchtet das Alter, ein alter Mann den Tod, ein Kind den Tadel. Die Frau definiert sich als schöne, attraktive Person, deshalb bereiten ihr die ersten grauen Haare Kummer. Der alte Mann meint, etwas versäumt zu haben, und will deshalb das Letzte aus seinem siechen Leben herauspressen. Das Kind möchte gelobt und als liebenswertes Wesen wahrgenommen werden, weshalb es alles tut, um sich bloß keinen Tadel anhören zu müssen. In jedem dieser Beispiele haften die Personen an einem bestimmten Bild ihrer Selbst. Deshalb werden sie leiden, sobald ihnen das Leben einen Strich durch die Rechnung macht. Und das Leben wird niemals zögern, sich diesem göttlichen Spaß hinzugeben.

Vielleicht sollten wir uns als Kräfte betrachten, die nur sind, insofern sie tätig sind. Es gibt keine Kraft jenseits ihrer Wirkung. Für uns könnte dies bedeuten, dass wir uns selbst nicht mehr definieren oder, falls dies einmal nicht zu vermeiden sein sollte, nichts Besonderes von uns annehmen. Wir sind eben alle Menschen mit diesem oder jenem Namen. Das genügt an fester Identität. Nur insofern wir etwas tun, sind wir. Wenn wir mit dem Musizieren aufhören und uns hinlegen, legen sich keine Musiker hin, sondern Menschen, die musiziert haben. Unser Tätigsein ist dann schon zu etwas Vergangenem geworden und also nichts mehr, das für uns noch irgendeine Bedeutung haben kann. Wir können uns auf nichts ausruhen. All unsere Abschlüsse und Auszeichnungen, die wir unter Mühen angesammelt haben, sind, ebenso wie die Meinungen, die sich andere von uns gebildet haben, letztlich wertlos, meinen wir, mit ihnen irgendetwas Festes, Bleibendes in Händen zu halten. Der Menschen ist lebendig oder er ist nicht.

Montag, 15. Juli 2013

Sorgende Seelen

Sorgende Seelen brauchen immer jemanden, dem es schlecht geht, um ganz sie selbst sein zu dürfen. In einer Welt, in der alle glücklich wären, hätten sie nichts zu tun. Sie schluchzen mit den Kranken, aber sie würden noch viel lauter schluchzen, wenn es keine Kranken mehr gäbe. Der Gedanke, dass es unsterbliche, sich ewigen Jugend erfreuende Menschen geben könnte, reißt sie aus den Träumen. Nein, sagen sie, der Tod muss leben! Sie leben davon, dass es Leid gibt. Folglich werden sie sich hüten, es gänzlich abschaffen zu wollen. Eher noch werden sie es als unausweichlichen Bestandteil eines jeden menschlichen Lebens heiligsprechen.

Samstag, 13. Juli 2013

Pure Beauty

Alexa war ein liebes Mädchen. Wenn sich der Vorhang hob, bestand ihre einzige Sorge darin, dass sie den Ton nicht treffen könnte. Sie übte fleißig; ihre Eltern unterstützten sie dabei. Keine Frage, sie hatte Talent. Ihre Stimme war zart und angenehm. Sie hätte überall auftreten können. In Einkaufszentren und auf Volksfesten. Wie so viele andere Mädchen auch, die Sängerin werden wollen. Weniges in der Welt könnte schneller vergehen, als das Lächeln, das mir ihre Auftritte auf's Gesicht gezaubert haben. Man konsumiert sie und vergisst sie. Viel mehr lässt sich zu Alexa nicht sagen.

Ganz anders Dark Pussy. Sie musste sich nicht vorstellen, wie es ist, traurig zu sein, um ein trauriges Lied zu singen. Man brauchte sie nur anzusehen und schon erahnte man die halbe Geschichte ihres Lebens. Noch nie hatte ich ein so verletzliches und verletztes Wesen gesehen. Ständig schwankte sie zwischen überdreht-explosiver Fröhlichkeit und völligem In-sich-Versenktsein auf ihren dürren Beinen hin und her. Nie wusste man, was sie als nächstes anstellen würde. Aber aus irgendwelchen Gründen musste man sie lieben. Irgendetwas war bei ihr zerstört oder zumindest sehr durchlässig geworden, das andere vor dem Dreck dieser Welt schützt. Wie eine offene Wunde kam sie mir vor. Ich fühlte mich beinahe schuldig, sie auch nur anzusprechen, so zerbrechlich wirkte sie auf mich. Doch sobald sie die Bühne betrat, verwandelte sie sich. Noch heute kann ich nur mit Gänsehaut über jene wundersamen Metamorphosen sprechen, deren Zeuge ich damals sein dürfte. Ihr Gesang war herb und düster, dann wieder zart und heiter. Mit einer überirdischen Sicherheit und Kraft gab sie allem Ausdruck, was sonst nur dunkel und in Schweigen getaucht auf dem Grunde ihrer kranken Seele wohnte. Pure Beauty. Perfektion. Sie suchte die richtigen Töne nicht; sie drängten zu ihr und wollten durch ihren brüchigen Mund ins Leben treten. Dank Dark Pussy ist mir klar geworden, was das Talent vom Genie trennt. Es sind nicht Grade oder feine Übergänge, sondern ein anderes Sein, eine andere Intensität

Alexa fühlte sich als Sängerin, aber nicht nur. Nach den Vorstellungen war sie wieder ein glückliches Mädchen, das mit ihrem Hund rausging oder an Jungs dachte. Sie musste improvisieren, wenn sie vor Publikum sang. Etwas darstellen. Dark Pussy musste niemals improvisieren und sie fürchtete auch nicht, dass ihr etwas misslingen könnte. Auf der Bühne fühlte sie sich geborgen wie ein Embryo im Mutterleib. Das Leid, von dem sie sang, war ihr Leid. Sie hatte keine Wahl; sie musste ihr Lied singen, ihre eigenen Verse, geschrieben mit ihrem eigenen Blut. Große Künstler spielen nicht mit Masken; sie finden durch die Kunst erst zu sich. Als Künstler sind sie wahrere, lebendigere Menschen, als sie es sonst, im sogenannten wirklichen Leben je sein könnten. Wer meint, Kunst sei nur schöner Schein, nur glitzerndes Wellenspiel auf einem tiefem Meere, der hat nur Mädchen wie Alexa in den Supermärkten dieser Welt auftreten sehen.


The House of the Rising Sun (Sinéad O’Connor)


Sonntag, 7. Juli 2013

Eris' Peitsche

Vor folgende „Wahl“ hat mich Eris, die Göttin der Zwietracht, schon oft gestellt. Wie kann ich dieses elende Spiel endlich gewinnen und ihrer Peitsche entkommen?

Sprich, und ich werde dich auspeitschen! Sprich nicht, und ich werde dich ebenso auspeitschen! Nun wähle!

Wenn du sprichst, werden deine Worte Zweifel erwecken. Ein jeder wird sich fragen, warum du ausgerechnet über dieses und nicht über jenes sprichst. Viele reden nur deshalb mit einer solchen Lebhaftigkeit von etwas, um von etwas anderem abzulenken. Reden ist auch ein Schweigen. Eine Meinung ist auch ein Versteck. Jeder wird sich fragen, warum du überhaupt etwas sagst, anstatt einfach zu schweigen. Warum du es nötig hast, deine Gedanken mitzuteilen. Wer bist du denn, dass man sich für dich und deine Geschichte interessieren sollte? Niemand erwartet irgendetwas von dir, warum also sprichst du? Warum drängst du dich in den Mittelpunkt und versammelst so viel Aufmerksamkeit auf deine unbedeutende Person? Weil du den Frieden störst, werde ich dich auspeitschen, sobald du auch nur ein Wort gesagt hast!

Wenn du nicht sprichst, wird man sich fragen, ob du etwas zu verheimlichen hast. Niemand liebt Menschen, die wie tiefe Wasser sind. Was führst du im Schilde? Welche Dämonen brütest du auf dem Grunde deiner Seele aus? Wer sollte dir glauben, wenn du nichts sagst? Woran sollten die Menschen erkennen, dass du es gut mit ihnen meinst, wenn du sie nur freundlich anschweigst? Die Welt gehört denen, die ihr Herz auf der Zunge tragen. Man vertraut ihnen, weil sie sagen, was sie denken. Sie haben gar keine Zeit, um sich irgendwelche Hintergedanken zu machen. Warum so abseits? So am Rand? Warum gehst du nicht zu ihnen? Trägst du einen geheimen Groll in dir, den du vor ihnen verbergen musst? Willst du mit deinem unerträglichen Schweigen die heitere und fröhliche Stimmung unter den Menschen zerstören? Es ist ganz gleichgültig, was du denkst. Weil du es nicht aussprichst, bleibst du eine ungewisse, eine unklare Figur. Weil du den Frieden störst, werde ich dich auspeitschen, sobald du auch nur ein Wort nicht gesagt hast!

Dienstag, 2. Juli 2013

Sei nicht du selbst!

Viele Menschen werden ihr ganzes Leben lang von dem Gefühl geplagt, immer irgendetwas falsch zu machen. Und zwar aus Gründen, die ihnen selbst nicht durchsichtig sind. Sie verstehen nicht, warum sie immer auf der Seite derer stehen, die sich rechtfertigen müssen. Worum es auch geht, sie ahnen schon vorher, dass sie sich einmal mehr werden erklären müssen. Warum etwas, womit sonst niemand Probleme zu haben scheint, ihnen nicht oder nur schwer möglich ist. Es ist alles andere als aufmunternd, wenn man einem stillen Kind sagt, dass es aus sich herausgehen solle. Denn so lernt es schon früh, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt. Wenn es nämlich wirklich introvertiert und also nicht bloß aufgrund einer vorübergehenden Traurigkeit still ist, dann wird es niemals aus sich herausgehen können. Das würde es als belastend und unnatürlich empfinden, so wie die unsensiblen Erwachsenen, die es mit gut gemeinten und schlecht getanen Ratschlägen überhäufen, sein Verhalten als belastend und unnatürlich empfinden. Diese Kind läuft also Gefahr, für alle Zeiten in einem Kreis von Erwartungen zu laufen, die es nicht erfüllen kann, ohne dem eigenen Wesen Gewalt anzutun. Was es wirklich will, ist nicht dieses ominöse Aus-sich-Herausgehen, sondern jemanden, der es ernstnimmt. Der ihm keine neuen Selbstzweifel einpflanzt. Wenn dieses Kind ein introvertierter Mensch ist, dann ist jedes freundliche Wort, das etwas aus ihm herauskitzeln will, das in ihm nicht angelegt ist, eine tendenzielle Beleidigung. Denn es besagt Folgendes: Sei nicht du selbst! So wie du bist, bist du eine Zumutung!

Montag, 1. Juli 2013

Mut zur Gewohnheit

Wir lehnen gerne bestimmte Handlungen ab, weil wir hinter ihnen egoistische Motive vermuten. Wir erwarten aber, dass die Handlung eines anderen echt sein möge. Seine Spende für die Armen erkennen wir nur an, wenn sie im naiven Bewusstsein des Guten getan wird. Sobald wir auch nur das kleinste Zeichen eines unausgesprochenen Hintergedankens entdecken, werden wir misstrauisch. Sehr schnell entwerten wir dann die ganze Handlung, brandmarken sie als unehrlich und scheinheilig. Wenn wir an den Motiven zweifeln, sind wir unweigerlich auch selbst gespalten, sprich: misstrauisch.

Setzen wir jedoch voraus, dass das Gute etwas ist, das sich entwickeln und wachsen muss, dann wäre ein egoistisch motiviertes Handeln für den Anfang gar kein Problem. Wenn wir uns ändern wollen, dann können wir dies nur mit einem ganz klaren Bewusstsein, also einem Bewusstsein, dem es noch sehr an Selbstverständlichkeit und Gewohnheit mangelt. In dieser Phase merkt man uns an, dass wir gut handeln wollen - und deshalb misstraut man leicht unseren Motiven. Es wirkt nicht so, als ob wir ganz da seien. Aber diese Phase ist nun einmal unausweichlich. Wir müssen sie akzeptieren. Das Problem ist nicht, dass wir aus egoistischen Motiven handeln, sondern dass wir uns einreden, wir dürften dies unter keinen Umständen tun. Denn damit verbauen wir uns die Möglichkeit, uns an ein bestimmtes Handeln zu gewöhnen. Dabei leisten uns auch jene einen Bärendienst, die nur ein Handeln gelten lassen wollen, das aus einem absolut reinen Herzen stammt. Deshalb sitzen wir in der Falle: Wir glauben an unser Gutes nicht, weil wir gelernt haben, unseren eigenen Motiven zu misstrauen.

Wir sollten uns eingestehen, dass wir eitel sind, dass wir nach Anerkennung gieren, dass wir uns aufblasen, um andere zu blenden, dass wír nicht halb so liebenswürdig sind, wie wir es gerne wären. Das ist aber alles nicht schlimm, sofern wir darauf vertrauen, dass unser Gutes erst viel später zu seiner Reife gelangen und wirklich gut werden wird. Uns bleibt nichts übrig, als dreckig anzufangen, mit dreckigen Gründen und aus niedrigen Motivationen. Wenn wir uns die Freiheit herausnehmen, uns ein gewisses Handeln anzugewöhnen, dann wird sich auch unser Gutes mehr und mehr aufhellen. Wir tun es dann irgendwann nicht aufgrund unserer niederen Motive, sondern weil wir eben immer so handelten, mit anderen Worten: weil es zu unserer Gewohnheit geworden ist, so zu handeln. Irgendwann werden wir das klare Bewusstsein der Motive unserer Handlungen verlieren, wenn wir nur den Mut zur Gewohnheit aufbringen. Könnte es nicht sein, dass die vielgepriesene Reinheit des Herzens etwas ist, das sich erst im Laufe einer langen Entwicklung herausbilden muss? Könnte diese Reinheit nicht ein sekundäres Phänomen sein?