Donnerstag, 31. Oktober 2013

Nett lächeln

... Zuspätkommen ... eine überflüssige alberne Bemerkung ... der Gedanke, wieder niemanden zum Reden zu haben ... verstocktes Unverständnis des Gegenübers ... der Anblick Liebender in der Straßenbahn ... Mein Alltag ist von zahlreichen Erfahrungen geprägt, die wie lauter kleine Nadeln in die Zellwand meiner Seele eindringen. Diese Löcher sind sehr klein und sie bluten kaum. Aber sie bluten. Jede dieser kleinen Erfahrungen sorgt dafür, dass es mir ein wenig schlechter geht, dass ich gereizter und unduldsamer werde, dass sich mein Vertrauen in die Menschen überhaupt abkühlt. Dann steigt allmählich Wut in mir auf. Die Fähigkeit, Mitgefühl zu entwickeln, stirbt mehr und mehr ab, was meine Isolation weiter verstärkt. Wenn ich in diesem Zustand irgendwo hingehe, stelle ich ein gewisses Risiko für meine Mitmenschen dar. Ich werde dann nicht diskutieren, empathische Gespräche oder sonst etwas beginnen, sondern ihnen zu verstehen geben, dass ich nichts von ihnen wissen will - und das strahle ich dann auch aus. Das funktioniert in der Regel ganz gut, eine solche negative Aura wirkt wie ein Fliegengitter gegen Menschen. Wenn ich in diesem Zustand angesprochen werde, so wie gestern im Seminar, und also jemand wagt, einen Fuß in meine verbitterte Einsamkeit zu setzen, kann ich für nichts garantieren. Nicht was ich gesagt habe, war hart, sondern wie ich es gesagt habe. Ich habe das gar nicht wahrgenommen, sondern erst durch die Reaktion der Kommilitonin bemerkt. Wenn ich die Situation empathisch betrachten würde, könnte ich diese Reaktion sicherlich nachvollziehen. Doch dazu bin ich nicht in der Lage. Ich fühlte mich in die Enge getrieben und meinte, mich gegen eine harmlose Frage wehren zu müssen: "Warum habt ihr die Proteste gegen die Wiederbewaffnung nicht erwähnt?" Was mich sehr befremdet hat, war die Dozentin, die mich nach dem Seminar zu sich gebeten hat. Wie einem bösen Jungen hat sie mir geraten, doch bitte zu versuchen, nett zu sein. Von den Nadelstichen hat sie natürlich keine Ahnung; sie will nur, dass ich mich besser präsentiere. Sie selbst ist eine große Selbstdarstellerin - und das fordert sie offenbar auch von ihren Studenten. Mit der Begründung, dass das im Arbeitsleben später wichtig sei. Also das alte dumme Argument, das schon so viele Menschen in die Selbstentfremdung getrieben hat: Nur wenn du so bist, kannst du erfolgreich sein - so wie ich. So eloquent, so perfekt im Darstellen einer Begeisterung, die nicht existiert. Du musst, du musst, du musst ... Ein einfaches "Wie geht es dir?" hätte mir hingegen gut getan. Aber das würde ja erfordert haben, dass sie sich auf mich wirklich eingelassen hätte, anstatt mir zu verstehen zu geben, dass ich ein defizitäres Wesen sei, dass sich gefälligst ändern solle. Stattdessen hat sie ihr suggestives Grinsegesicht aufgesetzt, das nur "Hab' ich Recht? Hab' ich Recht?" zu sagen schien. So redet man nicht unter Gleichen, so sprechen Lehrer mit ihren missratenen Schülern. Mit mir kann sie so nicht sprechen.

Ich fürchte, dass sich jemand, dem ich diese Situation vollständig berichten würde, auf die Seite der Kommilitonin bzw. der Dozentin stellen könnte. Wenn es mir schlecht geht und ich dann allein gelassen werde mit der Bemerkung, dass ja immer nur ich für all das verantwortlich sei, könnte ich weinen. Klar, die Leute, die immer ruhig bleiben, freundlich, lustig sind und in gelingenden sozialen Kontakten nur so schwimmen, werden sich natürlich untereinander solidarisieren, wenn es jemand wagt, pampig zu sein. Ich hasse am meisten, wenn sich Menschen hinter meinem Rücken im Bewusstsein ihrer wahrhaft menschlichen Gesinnung solidarisieren, denn dadurch wird die Möglichkeit, jemals irgendeinen Anschluss an sie zu finden, immer unwahrscheinlicher. Ich bin halt definiert in ihren Augen, ein schlechter Mensch. Es ist kein gutes Gefühl, wenn man weiß, dass da draußen Menschen herumlaufen, die einen so ansehen. Und das, obwohl ich ihnen nichts Böses will und an dieser Situation viel mehr leide, als sie es je könnten. Was bringt es da noch, nett zu lächeln?

Dienstag, 29. Oktober 2013

Breakaway

Gerne würde ich auf das Leben blicken wie ein alter Mann, der lächelnd sagt, dass er niemandem mehr etwas zu beweisen habe. Ein Mensch, der sich nicht mehr verrückt macht, wenn etwas nicht läuft, dem man anmerkt, dass in ihm ein tieferes Verständnis der Dinge lebendig ist. Ein Verständnis, das auf gründlicher Beobachtung und langer Erfahrung beruht. Leider bin ich noch lange nicht so weit, und es ist wahrscheinlich, dass ich das niemals hinkomme. Immer wieder fühle ich dieses Ziehen und Stechen in mir, eine große Unruhe, Unausgeglichenheit ... Keine Frage, irgendetwas wird da noch kommen, etwas, das mich einmal mehr verändern, meine Wurzeln ausreißen und in neue Böden verpflanzen wird. Jeder junge Mensch kennt wohl dieses unbestimmte Gefühl, dass das Wesentliche noch vor ihm liegt, auch wenn er nicht weiß, was genau das bedeuten wird ...

In den Seminaren habe ich es mit Menschen zu tun, denen es ähnlich geht. Sie machen mich krank. Das infantile Kichern über jede halbwegs abweichende Bemerkung des Dozenten, die unvermeidlichen Blicke auf ihre Smartphones, die wie kleine Teller vor ihnen liegen, der peinlich übertriebene Ehrgeiz, der sie hart werden lässt, ihre lächerlichen Versuche, gebildet zu sprechen, und das bei gleichzeitiger Unfähigkeit, Kompliziertes einfach zu erklären, die kalten Gleichgültigkeit, die sich sofort bemerkbar macht, nachdem das falsche Lächeln auf ihren Gesichtern verflogen ist, das sklavische Hinhören auf alles, was die Dozenten sagen ... Ich verachte dieses Pack. Zum Glück habe ich mir andere Schwerpunkte im Leben gesetzt, so dass ich die Universität betreten kann, wie ein Reisender einen Bahnhof betritt, nämlich ohne sich allzu viel dabei zu denken. Die Orte meiner Träume liegen andernorts. Es lohnt sich nicht, intellektuelle Leichen zum Tanzen bringen zu wollen. Macht euren Scheiß allein. Ich geh' spazieren, ihr Pussys!

Sonntag, 20. Oktober 2013

Selbstdisziplin

Das Denken findet in sich keine Ruhe. Jede Antwort gebiert eine neue Frage. Immer lässt sich noch ein weiteres Warum aus dem Hut zaubern. Einen natürlichen Endpunkt des Fragens, an dem der Zweifel endlich der Gewissheit wiche, gibt es nicht. Womit wir es zu tun haben, sind brüchige Konstruktionen, die die Philosophen und andere Welterklärer ersonnen haben, um ihre Lehrgebäude darauf zu errichten. Dabei bauten sie auf äußerst schwammigem Grund. Immer ist ihr Wille zu erahnen, einen festen Grund zu finden, notfalls zu erfinden, nur um endlich mit ihrem Werk beginnen zu können. Aber das ist unredlich. Das Denken eignet sich nur dazu, Sicherheiten zu zerstören; begründen kann es sie nicht. Ein denkender Mensch ist ein Zerstörer; Selbstverständlichkeiten lösen sich in seinem Geiste auf, liebgewordene Gewissheiten zerrieseln ihm zwischen den Händen. Je mehr er zu verstehen sucht und zu denken beginnt, desto weniger weiß er. Was er für gesichertes Wissen hielt, erstirbt im Weißlicht seines Zweifels. Er muss erkennen, dass seine tiefsten Überzeugungen ebenso notwendig sind wie die Augenzahl, die ein Spieler würfelt.

Weil das Denken alles zu nichts verwandelt, was einem lieb ist, bedarf man der Selbstdisziplin, um sich zu wehren. Es ist klar, dass der unendliche Zweifel auch die Selbstdisziplin ohne Probleme auflösen könnte. Durch das Nachdenken würde sie wiederum zu einem Problem des Denkens und damit zu einem ewigen Problem werden. Der selbstdisziplinierte Mensch ist nicht bereit, über alles und jedes zu diskutieren. Man könnte ihn unverständig nennen, weil er da, wo andere mit offenem Herzen hitzige Diskussionen führen, lieber schweigend seiner Wege geht. Seine Grundsätze sind zwar kontigent, und das mag ihm sogar bewusst sein. Dennoch fühlt er sich ihnen verpflichtet. Er hat Überzeugungen, über die er nicht diskutieren wird, und zwar unter gar keinen Umständen. Zu seiner Würde gehört es, das unendliche Spiel des Zweifels nicht mitzuspielen. Auch an seinen eigenen Motiven zweifelt er nicht; er verbittet sich vieles. Selbst jene, die sich über ihn lustig machen, bewundern doch im Geheimen die Festigkeit und Gravität seines Charakters, die ihnen abgeht, abgehen muss, weil sie einzig ihrem Denken die Treue halten. Und dem Denken, wir wissen es, vermag nur treu zu bleiben, wer sich selbst untreu wird ...

Freitag, 18. Oktober 2013

Nichts zu verlieren

Woher kommt diese unglaubliche Angst, seine Geschichte einem Fremden zu erzählen? Warum ist es so schwer, sich jemanden zu öffnen? Wie kann es sein, dass wir uns lieber in ein Schweigen hüllen, dass uns bis in die hintersten Winkel unserer Seele hinein verbittert, als einfach zu sagen, was wir denken und fühlen? Das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann, ist, dass er an seiner eigenen Sprachlosigkeit erstickt. Nicht-darüber-reden-Können ist ein anderes Wort für Einsamkeit. Die Seele, die nichts lieber täte, als aus ganzen Kräften zu schreien, muss ihre unerträgliche Spannung allein zügeln. Oft reden wir uns ein, wir dürften andere mit unseren Problemen nicht belasten und überfordern. Wir müssten das alles mit uns allein ausmachen. Aber belasten wir andere Menschen nicht viel mehr, wenn wir zunehmend verdüstern und verbiestern, weil wir nur noch stumm nach Innen schreien dürfen?

Eine mögliche Erklärung für dieses selbstzerstörerische Verhalten ist, dass wir nicht allein sein wollen. Wir möchten irgendwo dazugehören. Deshalb unterhalten wir Kontakte, denen es an jeder Tiefe und ehrlichem Interesse am anderen fehlt, nur um unsere große innere Leere zu betäuben. Die Angst, uns wieder mit dem Nichts des Alleinseins konfrontieren zu müssen, verwandelt uns in Konformisten. Wir versuchen, nicht negativ aufzufallen. Viele Menschen sind bereit, ihre Seele zu verkaufen, nur um nicht ganz allein in dieser Welt dazustehen. Sie haben noch nicht erfahren, dass das Alleinsein mit sich beglückender sein kann, als jene oberflächlichen Kontakte es je sein könnten. Die Einsamkeit zwingt den Menschen dazu, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Ein Mensch, der sich nicht leiden kann, wird versucht sein, die Begegnung mit sich selbst möglichst lange, wenn nicht gar für alle Zeiten herauszuschieben. Viel lieber hört er auf die gleichgültig hingesagten Lobworte, die seiner Person gelten, als sich ernsthaft zu fragen, wer er eigentlich sei.

Jeder Kontakt, der sich nur darum erhält, weil man sein wahres Gesicht verbirgt, ist wertlos. Und wenn man nur einen Moment einmal die Ruhe findet, um über diese überwältigende Angst nachzudenken, dann stellt sie sich als unbegründet heraus. Denn was ist ein Kontakt mit Menschen wert, die nur dann bereit sind, sich mit einem abzugeben, wenn man all seine verleugneten Bedürftigkeiten hinunterschluckt? Was ist ihre Freundschaft wert, wenn sie sich augenblicklich aufzulösen beginnt, sobald man erstmals zu erkennen gibt, welch tiefe Traurigkeit in einem wohnt? Nichts. Und deswegen sollten wir mutiger sein, über uns zu sprechen. Denn nur dadurch können wir herausfinden, welchen Menschen wir wirklich vertrauen können und welche nur kaltherzige Narzissten sind, die in ihrer perfekten Welt auf jedes Zeichen der Schwäche allergisch reagieren. Wir verlieren rein gar nichts, wenn wir sie los sind.

Mittwoch, 16. Oktober 2013

Einsamkeit

Dicker als eine Elefantenhaut umschließt dich deine Einsamkeit. Du könntest dich in dieser Haut wohl fühlen, würde sie deiner Seele nicht die Luft abschneiden. Gierig schlürfst du jeden Funken Menschlichkeit auf, der zu dir herniederträufelt. Von wenigen lieben Worten musst du dich ernähren. Dein Inneres ist abgedürrt und deine alten Wunden bluten nicht mehr, denn lange schon glaubst du nicht mehr daran, dass es anders sein könnte, als es eben ist. Du gehörst nirgends dazu, sondern gehst lose über diese Erde, deren Kind du bist. Du hast es nicht geschafft, deine Wurzeln tief in den Boden dieses Lebens hineinzusenken. Wie ein Anker, dessen Kette gerissen ist und der nun auf dem Grund des Meeres darauf wartet, dass ihn jemand bergen möge, betrachtest du die Lichter in der Ferne über dir, erhaschst immer wieder Ahnungen des Sonnenlichtes, das sich im Wellenspiel zärtlich andeutet. Auch du weißt noch, wie es ist, an Land und unter Menschen zu sein. Damals, als du noch kein komischer Kerl warst, als noch nicht jedes Wort, das du mühselig in deinem Geist für die Aussprache vorbereitest, sich so anfühlte, als würdest du es an einen übermächtigen Herrn richten, von dessen Gutdünken dein Leben abhängt. Heute werden alle Menschen deine Herren, denn jeder von ihnen könnte jemand sein, der dich aushält. Doch wartest du so gespannt auf diesen Menschen, dass er nicht kommen mag. Du fühlst selbst, dass du ihm nichts geben kannst, weil in dir nichts lebt. Zu mehr als ein paar ausgesuchten Höflichkeiten, zu einigen wohldosierten Worten ist deine ummauerte Traurigkeit nicht mehr fähig. Du hast es verlernt, dich zu verschenken, zu verschwenden und eine Welt in farbiges Licht zu tauchen. Ja, du weißt es, dass du nur eines kannst, nämlich Nehmen. Lange hast du versucht, das Letzte in dir zusammenzuziehen und deine vermoderte Innerlichkeit noch einmal zum Vibrieren zu überreden - vergeblich. Siehst du die Frau dort an der Haltestelle? Ist sie nicht ebenso einsam wie du? Wie sie so alleine auf den Bus wartet? Bis sie eine SMS bekommt. Sie liest sie. Ein wunderschönes Lächeln formt sich auf ihrem Gesicht. Verstehst du, was ich meine? Sie ist auf dem Weg von A nach B. Sie hat Menschen, die sich darauf freuen, sie zu sehen. Zu denen ist sie unterwegs. Du spürst ihre soziale Eingebundenheit, kannst sie beinahe sehen. Sie leuchtet. Vielen haben sie gern und es gibt viele, die sie gern hat. Sie lebt. Sie liebt. Sie kann es sich aussuchen, mit wem sie verkehren will, denn in vielen Herzen ist sie lebendig. Sie kann selektieren, also jene ausmisten, mit denen sie nichts zu tun haben möchte. Und zwar ohne sich schlecht fühlen zu müssen, weil sie Menschen kennt, deren heilsame Gegenwart es gar nicht erst zulässt, dass sich in ihr so etwas wie Schuldgefühle überhaupt herausbilden.

Du könntest ihr nichts geben. Aber auch die anderen Einsamen, deren Seelen ebenfalls vor Hunger schreien, magst du nicht sehen. Sie erinnern dich zu sehr an dein eigenes Leiden. Gerade ihnen willst du nicht zugestehen, dass sie deine Herren werden. Du willst dich sattfressen wie eine Made im Speck der menschlichen Emotionalität. Niemand wird dir diesen Gefallen tun, weil du diesen Menschen nichts Vergleichbares geben kannst, du Parasit. Und jene, die bereit sind, ihre Zeit für dich zu opfern, sind selbst froh, überhaupt jemanden zu haben, dem sie ihre traurige Geschichte erzählen können. Die Einsamen können keine Gemeinschaft bilden. Du ahnst, dass dieser Mensch immer bei sich bleiben wird, wie auch du immer bei dir bleiben wirst, ganz gleichgültig, was du tust. Ihr werdet euch nicht verstehen und im Grunde überhaupt nicht ausstehen können. Aber ihr werdet euch hüten, voneinander zu lassen, weil ihr euch fürchtet, wieder ganz allein eure Runden drehen zu müssen, die immer nur von A zu A führen. Du weißt, dass nur die Gemeinschaft dich retten und dir helfen kann, etwas von der Erdenschwere abzuschütteln, die dich so zu Boden zieht. Du hast nichts mehr zu verlieren. Wozu dich jetzt noch zurückhalten? Zu welchem Zweck willst du sie noch aufsetzen, deine alte Maske? Soll diese Maske deine Totenmaske sein? Es gibt nichts mehr zu verstecken. Denn es kommt einzig darauf an, sich in den Schmerz wie in seine letzte Hoffnung zu stürzen. Solange du noch versuchst, jemandem etwas zu beweisen, wirst du immer als Fremder unter jenen wandeln, die von Haus aus dazugehören.

Dienstag, 15. Oktober 2013

Die jüngste aller Weltreligionen

Die Liebe ist die Religion unserer Zeit. Die meisten Menschen halten ein Leben ohne Liebe für sinnlos. Immer wieder heißt es, dass es keine Tabus mehr gebe. In Bezug auf die Liebe trifft das nicht zu. Denn wer sich wagt, die Liebe zu kritisieren, wird sehr schnell ausgegrenzt und angegriffen. Dass es jemand wagt, das Wort gegen dies Heiligste, was Menschen kennen, zu erheben, wird nicht geduldet. Wer sich, zerfressen von Liebeskummer, von einer Brücke stürzt, gilt als jemand, der an einem zu tiefst menschlichen Problem zugrundegeht, wohingegen jemand, der mit kühlen Worten zum Ausdruck bringt, dass er dem allgemeinen Liebestaumeln nicht verfallen sei, schnell als Unmensch abgestempelt wird. Der an der Liebe leidende Mensch ist der Märtyrer der jüngsten aller Weltreligionen. Sein Schmerz ist der wahre Schmerz, der menschliche Schmerz. Wer hingegen gegenüber der Liebe eine ironische oder gar kritische Haltung einnimmt, gilt als Ketzer, als jemand, der die menschliche Sache verrät. Irgendetwas kann mit ihm nicht stimmen, er muss krank sein. "Wer so spricht, hat nie geliebt" - mit solchen und ähnlichen Aussagen sollen jene als lieb- bzw. gefühllos ausgegrenzt werden, die es wagen, nicht an die wunderwirkende Kraft der Liebe zu glauben. Sie gelten als herzlos, als kalte Spekulanten ihres Gefühlslebens. Gerne werden sie auch für krank erklärt, ihre Aussagen pathologisiert. Denn im Innersten sehne sich schließlich jeder Mensch nach der Liebe. Es ist klar, dass jemand, der auf diese Weise denkt, alle verurteilen muss, die es anders sehen. Menschen, die alleine leben, gelten als Unmenschen, als gescheiterte Existenzen, die man höchstens dann akzeptiert, wenn sie sich selbst als Suchende zu erkennen geben, als "Singles", also als solche, die auch an die Liebe glauben, sie aktuell aber nicht leben können. Alle anderen fallen aus der wahren Menschheit raus. Wahre Liebe, heißt es, überkommt den Menschen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie sei ein Gefühl, das spontan aus dem Herzen strömt, und das verdirbt, sobald es in eine bestimmte Richtung gelenkt werden soll. Der Verstand könne es nur zerstören. Die Religion der Liebe gebietet, dass sich der Mensch als gespaltenes Wesen betrachtet. In seinem Herzen erwächst das allein seligmachende Gefühl, während in seinem Kopf der rechnende Verstand regiert, der nur Unheil anrichten kann.

Sonntag, 13. Oktober 2013

Wandelbare Wahrheit

Alles ist dem Wandel unterworfen, sogar die Wahrheit. Wir wünschen uns jedoch klare Antworten auf unsere drängenden Fragen. Absolute Wahrheiten, die so verlässlig sind, dass man ruhigen Gewissens sein Haus auf ihnen bauen kann. Ein Haus, das kein skeptizierender Wolf dieser Welt umpusten kann. Wenn wir erfahren, etwas sei gewiss, glauben wir nur zu gern, dass es so sei. Denn Gewissheiten geben Sicherheit. Man weiß, woran man ist, womit man es zu tun hat. 

Dass wir uns wünschen, dass die Wahrheit auf eine letzte Formel zu bringen sei, verrät mehr über uns, als über irgendeine Wirklichkeit. Die Frage "Was ist Wahrheit?" suggeriert, dass es so etwas wie Wahrheit gibt. Was ist Wahrheit? Das, wonach gefragt wird, ist also bereits vorausgesetzt und die Frage deshalb nicht offen gestellt. Einerseits ist schon klar, dass es Wahrheit gibt, gleichzeitig bleibt aber noch im Dunkeln, was sie ist. Mit anderen Worten: Wir haben das Wort, wissen aber noch nicht, worauf es rekurriert. Das ist merkwürdig, denn wir verstehen ja schon ungefähr, was mit dem Ausdruck Wahrheit gemeint ist; ein gewisses Vorverständnis teilen wir. Sonst könnte wir diese Frage nicht stellen. Die Sprache legt nahe, dass es eine unwandelbare Wahrheit gibt, weil sich der Begriff Wahrheit scheinbar nicht wandelt. Wir gehen sogar davon aus, dass die Menschen früherer Zeiten auch schon nach unserer Wahrheit suchten. Schon die Griechen hätten ja auch nichts anderes getan, als nach jener Wahrheit zu suchen, als sie über die αλήθεια philosophierten. Dass sich die Alten bereits mit unseren Problemen herumschlugen, ist jedoch eine Annahme, der viele oft nicht ansehen, dass sie eine ist. Wir wollen, dass diese Dichter und Denker uns noch etwas zu sagen haben. Wir wollen uns als Kulturmenschen fühlen, die sich mit den immergrünen Fragen beschäftigen, "die die Menschen zu allen Zeiten beschäftigt haben". Deshalb ebnen wir die Geschichte ein. Deshalb glauben wir, es gebe "ewige" Fragen.

Unter welchen Sternen

Unter welchen Sternen
Wirst Du wandeln?
Mit welchen Farben wirst
Du Deinen Schmerz
Ins Buch des Lebens malen?

Noch einmal sende Deinen Blick
dorthin zurück, woher Du kamst.
Noch einmal, ein letztes Mal,
Bevor Du ganz erhellt
Von jungen Lichtern
Neue Wege Dir erschließt.

Was wir hofften für die Zukunft
Verschwand, noch ehe es geboren.
Unsere Zeit, die niemals kam,
Liegt wie ein Schatten hinter uns
Verloren.

Welche Einsamkeiten wird dies' Herz
Noch fühlen, ehe es zum letzten Mal
Den roten Saft in die Zellen
Deiner Hoffnung schießt?

Unser Blut führt Nächte fort.
Wo wir erwachen, tauchen wir
Eine Welt in Dunkelheit
Und suchen auf der hellen Erde
Am Tage nach dem Licht.

Dienstag, 8. Oktober 2013

Gestürmte Festungen

Es gibt Seelen, die Häusern gleichen, denen der Wind die Dächer abgedeckt hat. Sie sind vollkommen schutzlos allem ausgeliefert, was auf sie einprasselt. Auch ihre Mauern sind brüchig, wenn sie nicht schon ganz zu Staub zerbröselt herumwirbeln. Diebe müssen die Türen dieser Häuser nicht aufbrechen, denn sie stehen jedem offen. Es gibt Menschen, die wie offene Wunden leben müssen. Fortwährend bemühen sie sich darum, freie Zonen zu schaffen, in denen sie sein können, ohne sich vor Übergriffen fürchten zu müssen. Ihre Unfähigkeit, sich innerlich zu distanzieren, kompensieren sie, indem sie sich äußere Sphären und Räume errichten. Der Tempel ihres Selbst wird von niemandem bewacht. Jeder kann in ihr Heiligstes eindringen und es entweihen. Immer, zu jeder Zeit.

Oft gehören solche Seelen sich nicht selbst, sondern jemand anderem. Wer einen anderen Menschen in seinem Innersten verwundet hat, beherrscht ihn. Denn wenn jemand dort verletzt ist, bleibt ihm keine Möglichkeit der Flucht mehr. In sich selbst kann er sich nicht mehr versenken, um einer feindlichen Welt zu trotzen, denn sein Inneres ist eine gestürmte Festung. Solch ein Mensch hat nichts mehr entgegenzusetzen, er ist gebrochen. Zwar wehrt er sich noch, jedoch ohne den rechten Glauben daran, dass ihn jemand hören könnte. Er ist das Wachs in den Händen seiner Beherrscher. Seine Feinde stehen nicht vor seinen Toren, sondern machen es sich diesseits seiner Mauern bequem. Und er schafft es nicht, sie wieder zu vertreiben. Seine Individualität verflüchtigt sich zur leeren Formel, die er sich unmotiviert vorsagt, so als ließe sich Lebendigkeit herbeireden. Er schämt sich, seinem Herrn nicht zu gehorchen, dem er ja schließlich gehört. Der Unterschied zwischen ihm und jenen, als dessen Schatten er nun leben muss, verwischt zusehends. Was Eigenes noch in ihm lebte, geht verloren, weil es sich nicht gegen den fremden Willen zu behaupten versteht, der sich in ihm eingenistet hat. Er fühlt sich als Teil eines anderen. Ein Teil, der sich schuldig macht dadurch, dass er noch als äußerlich individuiertes Wesen durch diese Welt geht, obwohl ihm sein Heiligstes längst genommen worden ist. Endlich regt sich in einem solchen Menschen der Wunsch, sich auszulöschen, um seine Seele zurückzuerobern. Indem er sich vernichtet, streift er seinen Leib, der längst zur leeren Hülle geworden ist, ab, um sich mit der allgewaltigen Macht zu verbinden.