Dienstag, 8. Oktober 2013

Gestürmte Festungen

Es gibt Seelen, die Häusern gleichen, denen der Wind die Dächer abgedeckt hat. Sie sind vollkommen schutzlos allem ausgeliefert, was auf sie einprasselt. Auch ihre Mauern sind brüchig, wenn sie nicht schon ganz zu Staub zerbröselt herumwirbeln. Diebe müssen die Türen dieser Häuser nicht aufbrechen, denn sie stehen jedem offen. Es gibt Menschen, die wie offene Wunden leben müssen. Fortwährend bemühen sie sich darum, freie Zonen zu schaffen, in denen sie sein können, ohne sich vor Übergriffen fürchten zu müssen. Ihre Unfähigkeit, sich innerlich zu distanzieren, kompensieren sie, indem sie sich äußere Sphären und Räume errichten. Der Tempel ihres Selbst wird von niemandem bewacht. Jeder kann in ihr Heiligstes eindringen und es entweihen. Immer, zu jeder Zeit.

Oft gehören solche Seelen sich nicht selbst, sondern jemand anderem. Wer einen anderen Menschen in seinem Innersten verwundet hat, beherrscht ihn. Denn wenn jemand dort verletzt ist, bleibt ihm keine Möglichkeit der Flucht mehr. In sich selbst kann er sich nicht mehr versenken, um einer feindlichen Welt zu trotzen, denn sein Inneres ist eine gestürmte Festung. Solch ein Mensch hat nichts mehr entgegenzusetzen, er ist gebrochen. Zwar wehrt er sich noch, jedoch ohne den rechten Glauben daran, dass ihn jemand hören könnte. Er ist das Wachs in den Händen seiner Beherrscher. Seine Feinde stehen nicht vor seinen Toren, sondern machen es sich diesseits seiner Mauern bequem. Und er schafft es nicht, sie wieder zu vertreiben. Seine Individualität verflüchtigt sich zur leeren Formel, die er sich unmotiviert vorsagt, so als ließe sich Lebendigkeit herbeireden. Er schämt sich, seinem Herrn nicht zu gehorchen, dem er ja schließlich gehört. Der Unterschied zwischen ihm und jenen, als dessen Schatten er nun leben muss, verwischt zusehends. Was Eigenes noch in ihm lebte, geht verloren, weil es sich nicht gegen den fremden Willen zu behaupten versteht, der sich in ihm eingenistet hat. Er fühlt sich als Teil eines anderen. Ein Teil, der sich schuldig macht dadurch, dass er noch als äußerlich individuiertes Wesen durch diese Welt geht, obwohl ihm sein Heiligstes längst genommen worden ist. Endlich regt sich in einem solchen Menschen der Wunsch, sich auszulöschen, um seine Seele zurückzuerobern. Indem er sich vernichtet, streift er seinen Leib, der längst zur leeren Hülle geworden ist, ab, um sich mit der allgewaltigen Macht zu verbinden.

2 Kommentare:

  1. Genau so fühle ich mich.

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  2. Unsere Seelen sind das kost-und verletzbarste was wir haben. Und unsere Seelenwelt ist unsere Heim, unsere Kraftquelle, unser Ort, an dem wir uns zurückziehen können, um bei uns, mit uns selbst eins zu sein. Wenn diese Grenzen verletzt werden, hat dies nichts mit Achtung und Respekt voreinander zu tun. Seelen können sich zugeneigt sein, ohne einander beherrschen zu wollen. Sich auf Augenhöhe begegnen , ohne zu verletzen.
    Alles was diese Grenzen überschreitet, hat nichts mit Partnerschaft oder Liebe zu tun, sondern nur mit erzwungener Abhängigkeit.
    Sich seine Seelenwelt zurückzuerobern, sein Heiligstes, ist eine schwerer Kampf. Aber er kann gewonnen und muss gewonnen werden, denn sonst bleibt man auf ewig unfrei. Unfähig wirklich selbst zu sein und anderen offen gegenüber zu treten. Man ist nur noch ein Schatten seiner selbst.

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