Dienstag, 16. Juli 2013

Leid und Lebendigkeit

Wenn wir uns mit einem bestimmten Bild unserer Selbst identifizieren, machen wir uns verletzlich. Je mehr wir darauf bestehen, dieses und nicht jenes zu sein, desto mehr versteifen wir uns, desto unbeweglicher und schwerfälliger wird unser Geist. Etwas definieren heißt, ihm eine Grenze zu ziehen. Wer sich selbst definiert, setzt sich selbst Grenzen. Wollen wir wissen, wer wir sind, müssen wir unterscheiden zwischen dem, was uns ausmachen soll, und dem, was wir auf gar keinen Fall mit unserem Namen assoziiert sehen möchten. Die so entstandene Identität gerät immer dann ins Wanken, wenn uns wieder einmal deutlich geworden ist, dass wir kaum etwas anderes tun, als Behauptungen über uns selbst aufzustellen, die von der Wirklichkeit mit Leichtigkeit widerlegt werden können. Viele Leiden rühren daher, dass wir uns an etwas festkrallen, das längst tot oder nur der Eitelkeit entsprungen ist. Eine Frau fürchtet das Alter, ein alter Mann den Tod, ein Kind den Tadel. Die Frau definiert sich als schöne, attraktive Person, deshalb bereiten ihr die ersten grauen Haare Kummer. Der alte Mann meint, etwas versäumt zu haben, und will deshalb das Letzte aus seinem siechen Leben herauspressen. Das Kind möchte gelobt und als liebenswertes Wesen wahrgenommen werden, weshalb es alles tut, um sich bloß keinen Tadel anhören zu müssen. In jedem dieser Beispiele haften die Personen an einem bestimmten Bild ihrer Selbst. Deshalb werden sie leiden, sobald ihnen das Leben einen Strich durch die Rechnung macht. Und das Leben wird niemals zögern, sich diesem göttlichen Spaß hinzugeben.

Vielleicht sollten wir uns als Kräfte betrachten, die nur sind, insofern sie tätig sind. Es gibt keine Kraft jenseits ihrer Wirkung. Für uns könnte dies bedeuten, dass wir uns selbst nicht mehr definieren oder, falls dies einmal nicht zu vermeiden sein sollte, nichts Besonderes von uns annehmen. Wir sind eben alle Menschen mit diesem oder jenem Namen. Das genügt an fester Identität. Nur insofern wir etwas tun, sind wir. Wenn wir mit dem Musizieren aufhören und uns hinlegen, legen sich keine Musiker hin, sondern Menschen, die musiziert haben. Unser Tätigsein ist dann schon zu etwas Vergangenem geworden und also nichts mehr, das für uns noch irgendeine Bedeutung haben kann. Wir können uns auf nichts ausruhen. All unsere Abschlüsse und Auszeichnungen, die wir unter Mühen angesammelt haben, sind, ebenso wie die Meinungen, die sich andere von uns gebildet haben, letztlich wertlos, meinen wir, mit ihnen irgendetwas Festes, Bleibendes in Händen zu halten. Der Menschen ist lebendig oder er ist nicht.

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