Samstag, 15. Juni 2013

Sieben Minuten

Seit Hannie dem Debattierklub beigetreten war, hatte sich ihre Beziehung zu Felice sehr verändert. Schon bei ihrem ersten Besuch entdeckte Hannie ihre Leidenschaft für's Debattieren. Sie galt zwar als eher schüchtern und verschlossen, doch wenn sie fühlte, wie die gespannten Blicke auf ihr lagen, verwandelte sie sich. Die Erfahrung, dass sich jeder aufmerksam ihrer Worte anhören würde, war ihr völlig neu. Es war ihre Redezeit, sie konnte damit machen, was sie wollte. Wenn sich ein Mitglied der Opposition hinstellte und den Arm hob, um eine Zwischenfrage zu stellen, konnte sie ihn einfach warten lassen. Sie genoss es, die Redner der Opposition, die ihr so gerne widersprochen hätten, nicht zu Wort kommen zu lassen. Das gab zwar Abzüge in ihrer Wertung, doch das kümmerte sie wenig. Sie empfand ihr Verhalten alles andere als unfair. Sie hatte genug gelitten, jetzt sei sie eben an der Reihe. Sie bestand darauf, dass man ihr und nur ihr zuhörte. Normalerweise interessierte sich fast niemand für das, was in ihrem Kopf vorging. Mit Ausnahme von Felice. Diese sieben Minuten aber würden ihr und nur ihr gehören, von der ersten bis zur letzten Sekunde.

Nach der ersten Debatte unterhielten sich Hannie und Felice über Sinn und Unsinn des Debattierens. Sie waren den anderen Debattanten in deren Stammlokal gefolgt, um die losen Kontakte, die aus ihrem Besuch entstanden waren, gleich ein wenig festzuzurren. Den Tisch teilten sie mit mit Damian, einem ambitionierten BWL-Studenten, der zuvor mit großer Inbrunst für den moralischen Wert der Prostitution argumentiert hatte. Felice langweilte sich schnell, während Hannie Damian nach jeder seiner Klausurnoten des vergangenen Semesters fragte, um nur irgendwie in ein Gespräch hineinzukommen. Der genoss es sichtlich, von sich das Bild eines werdenden Leistungsträgers aufzubauen. Kurzum, Hannie und er verstanden sich sehr gut, allerdings ohne einander etwas zu sagen zu haben. Endlich, nachdem sie ihre dritte Zigarette verbraucht hatte, mischte sich Felice ein. "Wenn ich diskutiere, dann möchte ich auch meine eigene Meinung vertreten und nicht einer Partei zugelost werden. Zwar halte ich es auch für wichtig, die andere Seite ernstzunehmen, ich würde aber niemals für eine Sache streiten, an die ich nicht glaube." Dieses Argument kannte Damian. Gelassen und selbstbewusst erwiderte er: "Ein Debattierklub íst ein Ort, an dem du deine Selbstdarstellung verbessen, an deiner Rhetorik feilen und viele interessante Leute kennenlernen kannst. Wenn du an deinen Meinungen klebst, bist du hier falsch. Dann solltest du lieber in die Politik gehen." Diese Worte verletzten Felice. So als suchte sie Hilfe, blickte sie in Hannies Richtung. Ihre Freundin aber schaute Damian mit leicht geöffnetem Mund von der Seite an. Scheinbar wollte sie etwas sagen, doch als ihr Felices Hilflosigkeit bewusst wurde, hielt sie ihre Worte zurück. Das junge Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden.

Die nächsten Wochen ging Hannie allein zum Debattierklub. Felice hatte zwar ein vernichtendes Urteil über Damian und einige andere Klubmitglieder gesprochen, sie unter anderem als oberflächlich und eingebildet bezeichnet, doch Hannie berührten diese Worte überhaupt nicht. Im Gegenteil glaubte sie, dass es Felice schlicht an dem nötigen Selbstbewusstsein mangele, um beim Debattieren glänzen zu können, und dass sie deswegen so schlecht über den Klub dachte. Sie nahm sich vor, Felice dies zu sagen. Doch ihren Vorsatz vergaß sie schnell, spätestens dann, als sie ihren zweiten Auftritt hatte. Damian war auch wieder da. Er lachte sie an. Nicht nur er. Vielleicht zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie attraktiv sie eigentlich war. Es war ihr egal, für welche Seite sie streiten sollte. Man würde ihr zuhören. Jedes ihrer Worte mit Wohlgefallen prüfen und, wenn es sein musste, hart kritisieren. Aber selbst die Kritik nahm sie gern an, erblickte sie in ihr doch so etwas wie Neckerei. Was sich neckt, das liebt sich. Alle widersprachen, sprich: neckten sie, ergo: Alle liebten sie. Mit einer unglaublich gehobenen Stimmung verabschiedete sie sich gegen zwei Uhr von Damian, Ilja und Stefan. Alle drei hatten ihr ihre Nummern gegeben. Unschlüssig, wen sie anrufen sollte, torkelte sie durch die bis dahin glücklichste Nacht ihres Lebens. Glücklichere würden folgen, da war sie sich sicher. Vor allem weniger einsame.

Sie ärgerte sich, ihr Glück nicht mit Felice teilen zu können. Diese hatte es vorgezogen, einen ruhigen Abend zu Hause zu verleben. Hannie ging ihren Gefühlen nach, ordnete sie. Zunächst wollte sie es sich nicht eingestehen, doch es stimmte: Sie empfand Felice als Last, als Bremse ihres Glücks. Solange sie sich selbst zurückgenommen und sich auf einer schüchtern-liebenswerten Stufe mit Felice gesehen hatte, war ihr dieses Gefühl noch nicht untergekommen. Also immerhin schon über sieben Jahre nicht. Sie begann, sich Fragen wie die folgenden zu stellen. War Felice im Grunde nicht ein seltsames Mädchen? Kann man mit einem Menschen mit latent depressiver Charakterstruktur überhaupt befreundet sein, ohne sich selbst runterzuziehen? Wie soll eine Freundschaft lebendig bleiben, wenn man nur das Leid des anderen teilen kann, mit dessen Glück und Euphorie aber nichts anzufangen weiß?

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